Vortrag
am 22. September 2019 im Odeon, Göppingen
Für
mich war „Einer flog über das Kuckucksnest“ aus dem Jahr 1975 schon historisch,
als ich ihn als Jugendlicher zum ersten Mal gesehen habe. Als ich sechzehn war,
wurde in den USA die erste Staffel der Serie ausgestrahlt, die für Viele den
Beginn des Goldenen Zeitalters hochqualitativer, horizontal erzählter,
charakterzentrierter TV-Serien markierte und deren berühmt gewordene erste
Szene in der Praxis einer modernen, freundlichen und hochkompetenten
Psychotherapeutin spielt: Die Sopranos (1999-2007).
Dr.
Jennifer Melfi zählt zu den guten fiktionalen Psychotherapeut*innen (auf die
Unterscheidung der Berufsgruppen Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen
verzichte ich in diesem Vortrag, da sie in den meisten fiktionalen Darstellung
nicht, oder nicht korrekt getroffen wird) des 21. Jahrhunderts, die ihren
Patient*innen nach Kräften helfen. Andere sind Sean Maguire aus Good Will
Hunting (1997), Paul Weston aus In Treatment (2007-2010) – einer Serie, die
fast ausschließlich in Pauls Behandlungszimmer spielt –, die Therapeuten aus
aktuellen Netflix-Produktionen, wie To The Bone, Atypical und Lucifer sowie im
deutschen Sprachraum Bloch (Dieter Pfaff, 2002-2013), die Psychologin Dr. Jung
aus dem Kieler Tatort, oder der von Christian Ulmen verkörperte Dr. Psycho
(2007-2008). Teilweise sind diese Psychotherapeut*innen schrullig, neurotisch,
ein wenig narzisstisch und mit den ethischen Grenzen des Berufsstandes nehmen
sie es nicht immer so genau – dennoch sind sie nicht zu vergleichen mit der
kalten, autoritären, ja grausamen Oberschwester Ratched aus Einer Flog über das
Kuckucksnest.
Schwester
Ratched steht damit in der Tradition der Psycho-Protagonisten ihrer Zeit. Neben
Einer Flog über das Kuckucksnest steht Alfred Hitchcocks Meisterwerk Spellbound
mit Ingrid Bergmann und Gregory Peck für böse Psychiater mit gruseligen
Fähigkeiten der Manipulation und Beeinflussung. Ganz zu schweigen von
unzähligen Horror-B-Movies in denen durchgeknallte Psychiater und schaurige
psychiatrische Anstalten zu sehen sind.
Noch
1991 erblickt einer der bekanntesten und schrecklichsten Kollegen meiner Zunft
das Licht der Filmleinwand: Der hochintelligente Kannibale und Meister der
Manipulation Hannibal Lecter (Das Schweigen der Lämmer).
Im
selben Jahr wird Sarah Connor in Terminator II in einer gefängnisartigen
Psychiatrie mit Gitterstäben und pervers-sadistischen Wärtern eingesperrt – und
das obwohl sie nicht einmal krank ist: Der Terminator, Zeitreisen und die
nahende Apokalypse sind ja real.
Überhaupt
ist der Topos der/s zu Unrecht in der Psychiatrie zwangsuntergebrachten
Gesunden, welche/r lediglich an den unhinterfragten, aber in ihrer Rigidität
und Unmenschlichkeit letztlich eigentlich verrückten Gesellschaft, oder der
Psychiatrie selbst, kaputt geht, beliebt. In Stieg Larssons Millennium-Trilogie
wird die unliebsame Lisbeth Salander pathologisiert und zeitweise weggesperrt
und auch McMurphy, in Einer flog über das Kuckucksnest, ist zwar ein Gauner –
wirklich krank macht ihn jedoch erst die Psychiatrie.
Es
gibt wohl eine Wechselwirkung zwischen Fiktion und Realität. Wir wissen aus der
Forschung, dass fiktionale Stoffe die Wahrnehmung der Realität beeinflussen
können. So fand eine österreichische Studie (Till et al., 2006) heraus, dass in
Österreich lebende Personen, die viel fernsehen eher glauben, dass es dort noch
die Todesstrafe gebe (die tatsächlich 1968 abgeschafft wurde), also quasi mit
dem durch das Fernsehen gezeigten US-Justizsystem besser vertraut sind, als mit
den Gesetzen ihres eigenen Heimatlandes.
Gleichzeitig
können wir wohl mit C.G. Jung, der 1950 schrieb, dass Goethes Faust nicht nur die
innerpsychischen Konflikte seines Verfassers widerspiegle, sondern die
Bewusstseinslage einer ganzen Generation, davon ausgehen, dass fiktionale
Stoffe v.a. dann zu Popularität gelangen, wenn sie Themen und Gefühle der sie
rezipierenden Gesellschaft in eine anschauliche Form gießen.
Der
Psychoanalytiker und Medienpsychologe Dirk Blothner (1999, S. 220) stellt fest,
dass im Film „noch unausgeformte und revoltierende Strömungen in Bilder gefasst
werden. Daher lässt sich an den wirksamsten Filmen oft auch ablesen, auf welche
neue Ordnung die Gesellschaft zusteuert“.
Vor
diesem Hintergrund passt, wie wir schon gehört haben, Einer flog über das
Kuckucksnest perfekt in seine Zeit. Zwei Jahre zuvor, 1973, war die
spektakuläre und schockierende Studie des Psychologen David Rosenhan mit dem
Titel „being sane in insane places“ erschienen. In diesem klassisch gewordenen
Experiment wurden acht gesunde Menschen, überwiegend Studierende, in verschiedenen
psychiatrischen Kliniken vorstellig und berichteten beim Erstgespräch, Stimmen
zu hören. Alle acht Pseudopatienten wurden stationär aufgenommen – soweit kein
Problem. Allerdings wurden sie durchschnittlich neunzehn Tage lang „behandelt“,
obwohl sie sich vom Zeitpunkt der Aufnahme an normal verhielten und nie mehr von
akustischen Halluzinationen berichteten – McMurphy lässt grüßen!
Natürlich
lässt sich die Rosenhan-Studie in vielfacher Hinsicht kritisieren: Mutmaßlich
wohlmeinende Behandler, wurden über ein ernsthaftes psychiatrisches Symptom
(akustische Halluzinationen) belogen und somit in eine Falle gelockt. Zudem
wurden Behandlungskapazitäten gebunden, die eigentlich tatsächlich kranken und
leidenden Patient*innen vorbehalten sein sollten. Gerade aus heutiger Sicht, wo
dringend behandlungsbedürftige und behandlungswillige Menschen zum Teil Monate
lang auf eine Therapie warten müssen, weil deutlich zu wenig stationäre und
ambulante Behandlungsplätze zur Verfügung stehen, ist dies fragwürdig.
Tatsächlich
ist die institutionalisierte Macht der Psychiatrie heute geringer, als früher.
Gesetze und berufsethische Standards sollen die Menschen vor Übergriffen durch
die Psychiatrie schützen – und tun dies überwiegend auch effektiv. Das
Selbstbild ist – hier schneller, dort langsamer – dabei, sich vom Halbgott in
weiß zum Mental-Health-Experten auf Augenhöhe zu wandeln. Auf informeller
Ebenen jedoch, ist die Macht von Psychiatrie und Psychotherapie ungebrochen.
Wir verfügen über die Macht der Definitionshoheit! Oft geht es um nichts
weniger, als die Entscheidung, was bzw. wer normal ist, also einen legitimen
Platz in der Gesellschaft zugestanden bekommt und wer bzw. was außerhalb steht.
Wer heute zur/m Psychiater*in kommt, tut dies vielleicht seltener mit der
Angst, „in der Psychiatrie zu landen“, wohl aber mit der Angst davor, als zu
schwach, zu sensibel, zu empfindlich oder auch „zu dumm“ etikettiert zu werden,
um in unserer Gesellschaft, auf dem hart umkämpften Markt der Performance als
Selbstdarsteller, bestehen zu können.
Die
Psychiatrie war immer und ist weiterhin in der Gefahr, sich zur
Erfüllungsgehilfin gesellschaftlicher Abwehr- und Ausstoßungsprozesse zu
machen. Es ist bequemer, wenn ein Attentäter, Terrorist oder Massenmörder für
psychisch krank befunden wird, weil Krankheit etwas ist, wofür die umgebende
Gesellschaft scheinbar nicht verantwortlich gemacht werden kann – ein
Trugschluss, sicher, aber ein hartnäckiger. Genauso wie es uns allen scheinbar
angenehmer wäre, das Problem Donald Trump auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung
zu reduzieren, als der Tatsache ins Auge zu sehen, dass fast die Hälfte der
Amerikaner einen rassistischen, chauvinistischen Lügner zum „Führer der freien
Welt“ gewählt hat. Die Tatsache übrigens, dass sich an dieser Ferndiagnostik
auch Psychiater*innen beteiligt haben, ist – unabhängig von der persönlichen
und politischen Bewertung Donald Trumps – ein Kunstfehler. Psychiatrie ist eine
Heilkunst und darf niemals – als Deutscher will ich hinzufügen: Niemals mehr! –
zur Waffe in der politischen Auseinandersetzung werden.
Ein
vergleichbarer Abwehrmechanismus erklärt aus psychologischer Sicht auch die
aktuell deutlich werdende Tendenz zur Verharmlosung und Relativierung von
Rechtsterrorismus ausgerechnet in Deutschland.
Große
Teile der deutschen Bevölkerung empfinden, aus gutem historischem Grund,
bewusst oder unbewusst, eine Verantwortung dafür, dass sich Nationalsozialismus
und Holocaust niemals wiederholen dürfen. Sie fühlen sich als Staat und
Gesellschaft daran gemessen und bewertet. Diese Verantwortung wiegt schwer. Man
kann sie bewusst wahr- und annehmen und sich als Individuum und Teil der
Gesellschaft dem Antifaschismus, Antirassismus und einer offenen Gesellschaft
verpflichten. Jedoch geht mit großer Verantwortung auch eine große Versuchung
einher, diese zu vermeiden, sich vor ihr zu drücken. Eine bewusste Vermeidung
ist die Forderung nach Schlussstrichen. Eine unbewusste Art der Vermeidung, des
Wegduckens, kann die Verleugnung des Problems, für welches man bei dessen
Anerkennung Verantwortung übernehmen müsste, sein. Die Ängste, Aggressionen,
Xenophobie, die man vielleicht trotz allem in sich und um sich herum spürt,
lassen sich leichter projizieren als sich damit zu konfrontieren und auseinanderzusetzen.
Als Projektionsfläche eignen sich die, mit denen man augenscheinlich nichts zu
tun hat, für die man scheinbar nicht in Mitverantwortung genommen werden kann.
Linksradikale und Islamisten zum Beispiel, mit denen ich als Durchschnittsdeutscher
kaum assoziiert werde. Oder eben vermeintlich psychisch Kranke.
Michel
Foucault hat diesen Abwehrmechanismus in Wahnsinn und Gesellschaft (1961)
beschrieben: Bis in die Renaissance waren die sogenannten Wahnsinnigen oder
Irren als „normaler“ Bestandteil in die Gesellschaft integriert. Im besten Fall
als Orakel, Hellseher oder spirituelles Medium, im schlechteren Fall als
Dorftrottel, Hofnarr oder gruselige Sensation. Mit der Aufklärung wurde dann
das Postulat des Menschen als vernünftiges Wesen zum Mainstream, welches von
Beginn an den Geburtsfehler der Verdrängung aller irrationalen, triebhaften,
emotionsgesteuerten beinhaltete. Der „Wahnsinn“ als intensivste Manifestation
dieser menschlichen Anteile, passt als allgemein menschliches Phänomen nicht in
dieses Narrativ. Nach Christian Morgenstern: „Und er kommt zu dem Ergebnis: Nur
ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann,
was nicht sein darf.“ So entstand ein Motiv für die Auslagerung des Wahnsinns
und die Tilgung der „Verrückten“ aus dem alltäglichen Leben. Die ersten
Anstalten entstanden, zunächst allerdings mit dem Ziel, die Menschen, die durch
ihre Krankheit zu sehr von der Norm abwichen, wegzusperren. Mit Emile Durkheim
könnte man sagen: Es muss immer Menschen geben, die als „verrückt“ gelabelt
werden, damit die Mehrheit sich als „normal“ empfinden darf.
Der
einseitige Rationalismus der Aufklärung wurde bereits von Schopenhauer und
Nietzsche kritisiert, auf die sich nicht nur Foucault bezieht, sondern auch
Sigmund Freud. Mit ihm vollzog die Beschäftigung mit dem Psychopathologischen
einen Paradigmenwechsel. Nicht, dass es nicht schon zuvor Ärzte gegeben hätte,
die psychisch Kranke nicht nur wegsperren, sondern ihr Leiden durch –
zugegebenermaßen aus heutiger Sicht oft recht krude – medizinische Behandlung
lindern wollten. Doch erst Freud hob die soziologisch konstruierte Trennung
zwischen Verrücktheit und Normalität auf, indem er der Menschheit die sog.
dritte große Kränkung zufügte: Kopernikus hatte die Erde und damit den Menschen
vom Mittelpunkt des Universums auf den Platz eines seinerseits um die Sonne
kreisenden Planeten unter vielen verwiesen. Charles Darwin hatte den Menschen
von der Krone der Schöpfung zu einem Tier unter vielen degradiert. Sigmund
Freud schließlich konfrontierte den Menschen damit, dass er noch nicht einmal
„Herr im eigenen Haus“ sei, sich also des Großteils seiner Handlungsmotive kaum
bewusst. Psychopathologie wird dadurch zu einer Normvariante, zu lediglich sehr
stark oder sehr schwach ausgeprägten, aber universellen, gleichsam
archetypischen Erlebens- und Verhaltensweise.
In
dieser Tradition stehen wir als heutige Psychiater*innen und
Psychotherapeut*innen. Jedem psychisch kranken Menschen zuvorderst als Mensch
und erst dann als psychisch Krankem zu begegnen. Und auch – z.B. an einem Abend
wie heute – gegen die Stigmatisierung psychischer Krankheit und damit die
Exklusion des Abweichenden aus der gesellschaftlichen Selbstdefinition
aufzustehen und anzureden.
McMurphy
ist archetypisch gesehen eine Trickster-Figur. Sein Verhalten wirkt im Kontext,
in dem er agiert, irrational oder sogar verrückt. Doch seine Verrücktheit ist –
das wird in Einer flog über das Kuckucksnest deutlich – nicht objektiv, sondern
durch den Kontext selbst zugeschrieben. Damit entlarvt er die Irrationalität
und Verrücktheit des Systems selbst, fordert es heraus, zwingt es zur
Selbstreflektion – und verliert nur scheinbar. Denn auch wenn der Trickster
selbst noch vom System bestraft wird, hat er doch dessen Grenzen aufgezeigt und
es damit hinterfragbar gemacht. McMurphys finden sich heutzutage immernoch in
großer Zahl – nach einer Schwester Ratched müsste man in einer modernen
Psychiatrie – und darauf können wir, denke ich, bei aller gebotenen Selbstkritik,
doch stolz sein – schon länger suchen.
Den Audiomitschnitt des Vortrags zum Nachhören gibt es hier.
Den Audiomitschnitt des Vortrags zum Nachhören gibt es hier.
Literatur
Blothner, Dirk (1999): Erlebniswelt Kino.
Über die unbewußte Wirkung des Films. Bergisch-Gladbach: Bastei Lübbe.
Foucault, M. (1961). Histoire de la folie à
l’âge classique: Folie et déraison. Plon, Paris. Deutsch: Wahnsinn und
Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft.
Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Jung, C.G. (1950). Gestaltungen des Unbewussten.
Zürich: Rascher
2 Kommentare:
Susannah Calahan (bekannt aus dem Netflix Film "Brain on fire") nahm sich Rosenhan als Vorbild und versuchte möglichst viel über ihn herauszufinden. Ihre Recherchen ergaben, dass seine Studie eine Erfindung war. Die acht Probanden waren fiktiv und von ihm erfunden! Der Spiegel berichtete im Dez 2019 darüber. Spannend aber auch aus der Hinsicht, dass der Schwindel erst nach so langer Zeit aufflog.
Ja, das musste ich leider kurz nach dem Vortrag auch feststellen...
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