Als
Unbeteiligter ist die spanische Komödie Toc Toc, die derzeit bei Netflix zu
sehen ist, ziemlich lustig. Allerdings bin mich mir nicht ganz sicher, ob sie
von Menschen mit Zwangsstörungen nicht als verletzend empfunden wird.
Vielleicht wirkt der Twist (der eigentlich keiner ist) am Ende in wenig in Richtung
Empowerment.
In Toc Toc
leiden die meisten Protagonist*innen an einer Zwangsstörung und zwar an der
Variante, bei der Zwangshandlungen (im Gegensatz zu Zwangsgedanken), sogenannte
Zwangsrituale, im Vordergrund stehen (ICD-10: F42.1). Die Störung ist durch die
folgenden Kriterien definiert:
- Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen treten über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen an den meisten Tagen auf
- Sie werden als Produkte des eigenen Geistes erkannt und nicht als von Personen oder äußeren Einflüssen eingegeben betrachtet
- Sie treten wiederholt auf, werden als unangenehm und zumindest teilweise unangemessen erlebt
- Der Betroffene versucht, sie zu unterdrücken. Mindestens ein Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung kann nicht erfolgreich unterdrückt werden
- Die Zwangshandlung ist an sich nicht angenehm (dies ist zu unterscheiden von einer vorübergehenden Erleichterung von Anspannung oder Angst)
- Die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen verursachen Beschwerden oder soziale Probleme
Diese
Kriterien treffen auf den Zählzwang, den Waschzwang, den Kontrollzwang, den
Ordnungszwang und das Vermeiden von Fugen beim Gehen zu. Von Zwängen zu
unterscheiden sind jedoch die sogenannten Tics (ICD-10: F95.1). Tics lassen
sich in vokale (Räuspern, Sprechen) und motorische (Zucken, Zwinkern, Gesten)
sowie in komplexe (Sprechen, Gesten) und weniger komplexe (Räuspern, Zucken,
Zwinkern) Tics einteilen. Gerade die komplexen Tics sind zum Teil nur schwer
gegenüber Zwangshandlungen abgrenzen.
Trotz der
äußerlichen Ähnlichkeit, unterscheidet sich das innere Erleben der Betroffenen:
Der Ausführung von Zwangshandlungen geht eine eher konkrete kognitive
(gedankliche) und emotionale Anspannung, bis zu intensiver Angst, voraus, z.B.
die Angst vor Kontamination vor einem Waschzwang oder die Phantasie, das Haus
könnte abbrennen, vor einem Kontrollzwang, z.B. dem Überprüfen ob der Herd oder
das Bügeleisen abgestellt wurden.
Demgegenüber
geht Tics eine eher diffuse, stärker körperlich empfundene Anspannung voraus,
der, quasi zur Entlastung oder Abreaktion, die unwillkürliche, oft wiederholte
Ausführung des Tics folgt.
Die
konkreten Tics in Toc Toc sind das Bekreuzigen (die Tatsache, dass es Ana Maria
selbst zunächst gar nicht bewusst ist, ist auch eher typisch für einen Tic als
einen Zwang), das Wiederholen der letzten Worte anderer (Echolalie) und von
sich selbst (Palilalie) und natürlich Federicos Tourette-Syndrom (ICD-10:
F95.2), welches die Kombination motorischer (Zwinkern, Zucken) und vokaler Tics
darstellt. Letztere müssen nicht obszön sein, noch nicht einmal richtige Worte
– aber für Komödien eignet sich diese Variante natürlich am besten und ist
deshalb popkulturell recht beliebt.
Damit sind
alle Protagonist*innen diagnostiziert – mit Ausnahme der Empfangsdame. Doch
auch sie kommt nicht ganz ohne psychische Störung davon, zumindest, wenn man
die Nikotinabhängigkeit (ICD-10: F17.2) dazuzählt.
Neben der
bunten Symptomatik fällt natürlich der unkonventionelle Behandlungsansatz von
Dr. Palomero auf. Im Film mag das lustig sein, in der Realität verbietet sich
ein solche Vorgehen aber eindeutig. Jeder Psychotherapeut ist – ebenso wie
jeder Arzt – an die Grundsätze der Medizinethik gebunden. Dazu gehört, neben Nicht-Schädigung,
Fürsorge und Gerechtigkeit, der Grundsatz der Autonomie der/s Patient*in. Um
sich autonom und frei für und auch gegen eine therapeutische Intervention
entscheiden zu können, muss die/der Patient*in umfassend, transparent und
verständlich über die Methode, deren Wirkungen und Nebenwirkungen sowie
mögliche Alternativen aufgeklärt werden. Patient*innen in der Weise zu
täuschen, wie es in Toc Toc geschicht ist – unabhängig von den davon erhofften
Effekten – unethisch und somit ein Kunstfehler!
Zudem stellt
sich die Frage, ob die Täuschung überhaupt notwendig war, oder ob die
Beteiligten sich nicht auch nach einer individuellen Aufklärung auf die
Gruppentherapie hätten einlassen können. Und, in der Tat, die Gruppentherapie,
die in Toc Toc schließlich stattfindet, funktioniert richtig gut. Was keine Überraschung
ist, ist Gruppentherapie doch auch in Wirklichkeit ein hoch wirksames,
dynamisches, spannendes und oft auch für alle Beteiligten sehr unterhaltsames
Verfahren.
Der große
Psychotherapeut Irvin D. Yalom hat in seinem Standardwerk über Gruppentherapie
deren elf zentrale Wirkfaktoren herausgearbeitet.
- Universalität: Betroffene psychischer Krankheiten und emotionaler Probleme haben mitunter den Eindruck, alle anderen würden ihr Leben besser hinbekommen. Auf andere zu treffen, die mit ähnlichen Problemen kämpfen und sich mit diesen auszutauschen, kann eine heilsame Erfahrung sein.
- Hoffnung: Andere, die unter ähnlichen Schwierigkeiten leiden, dabei zu beobachten, wie sie Fortschritte machen, lässt Hoffnung auf eigene Heilung entstehen.
- Kohäsion: Teil einer Gruppe zu sein, in der man sich wohl, verstanden und zugehörig fühlt, steigert das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeitserwartung.
- Soziale Kompetenz: Ist eine wichtige Ressource im Umgang mit persönlichen und sozialen Ursachen und Folgen psychischer Krankheit und kann in Gruppentherapien in einem wohlwollenden und sicheren Rahmen gelernt und trainiert werden.
- Selbstwert: Als Teil einer Gruppe gerät man automatisch früher oder später in positive besetzte, den Selbstwert steigernde Positionen und Rollen, z.B. der Verständnisvolle, die Erklärerin, die Kämpferin für Gerechtigkeit, der Tröstende usw.
- Katharsis: Psychotherapie hat im Allgemeinen den positiven Effekt, Erleichterung und Entlastung dadurch zu erfahren, dass schambesetzte oder unaussprechlich scheinende persönliche Gefühle und Gedanken ausgesprochen und dadurch ihrer negativen Macht beraubt werden. In Gruppentherapien kann dieser Effekt noch dadurch gesteigert werden, dass es mehr Zeugen gibt und diese „echte Menschen“ (im Gegensatz zu Therapeut*innen) sind.
- Modelllernen: Jede/r Teilnehmer*in einer Gruppentherapie kann irgendetwas besonders gut oder bringt besondere Eigenschaften mit, welche die anderen von ihr/ihm lernen können.
- Interpersonelles Lernen: Chronifizierte interpersonelle Konflikte sind häufig an der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Krankheiten beteiligt. In einer Gruppe werden sie häufig aktualisiert (z.B.: Wer sich in seinem Leben schnell gekränkt oder vernachlässigt fühlt, wird sich auch in der Gruppe früher oder später so fühlen) und können dadurch unmittelbar bearbeitet werden.
- Verarbeitung: Die Verarbeitung von belastenden oder traumatischen Erfahrungen findet in Gruppen nicht nur indirekt durch Darüberreden statt. Vielmehr findet währenddessen unmittelbar eine positive, gleichsam korrigierende Erfahrung von Halt und Verständnis statt, welche die Verarbeitung fördert.
- Information: Jede/r Teilnehmer*in bringt eigene Erfahrungen und eigenes Wissen über Krankheit, Heilmethoden, Ressourcen und Strategien mit, von welchen auch die anderen profitieren können.
- Existenzielle Erfahrung: Letztlich lässt sich das menschliche Leiden, welche Form es auch immer angenommen hat, auf die existenziellen Belange Freiheit, Tod, Einsamkeit und Sinnsuche zurückführen. Die Erfahrung, auch mit diesen letzten Ängsten nicht alleine, sondern im Gegenteil, gerade durch diese letztgültigen Themen und Fragen mit anderen und im Prinzip mit allen anderen verbunden zu sein, kann ebenfalls heilsam sein.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen