Arme Arya!
Von all den vielen Charakteren, die in Game of Thrones schlimme
Schicksalsschläge und Verluste erleiden, gehört sie zu den jüngsten und den am
härtesten getroffenen.
Mit acht
Jahren muss sie die Enthauptung ihres Vaters mitansehen, ist daraufhin ständig
von Verfolgung, Folter, sexueller Gewalt und Tod bedroht, erfährt von der
kaltblütigen Ermordung ihrer Mutter und ihres Bruders, verliert ihren besten
Freund Gendry an die rote Priesterin, wird als Geisel genommen, wohnt unzähligen
Kämpfen und Morden bei und wird schließlich unter unmenschlichen Bedingungen
selbst zur Killerin ausgebildet. – Nicht der Werdegang, den man sich für ein
Kind wünscht, nicht einmal in der brutalen Welt von Game of Thrones.
Wie
schafft es Arya, an all dem nicht psychisch zu zerbrechen, nicht aufzugeben,
vor Verzweiflung und Einsamkeit nicht depressiv oder suizidal zu werden, wie zum
Beispiel Tommen Baratheon.
Eine
wichtige Rolle scheint dabei ihre Todesliste zu spielen: Jeden Abend vor dem
Schlafengehen und auch sonst, wenn sie große Angst hat, sagt sie sich
gebetsartig die Namen all jener auf, die ihrer Familie Unrecht getan haben und
die sich aus Rache dafür töten möchte. Die Liste existiert nicht auf Papier,
wird aber ein wichtiger innerer Begleiter auf Aryas Weg. In Momenten, in
welchen sie sich alleine fühlt, Angst hat, nicht schlafen kann – also genau den
Momenten, in denen ein Kind sich normalerweise an seine Eltern oder andere
wichtige Bezugspersonen wendet, wenn sie denn vorhanden sind, hilft es Arya,
sich ersatzweise auf ihre Liste zu konzentrieren. Diese ist vertraut, lenkt die
Aufmerksamkeit von den eigenen Gefühlen (Angst, Verzweiflung, Trauer) auf eine
Machtphantasie, die sich mächtig und selbstwirksam anfühlt und stellt zudem
einen ideellen Kontakt zu Aryas ausgelöschter Familie her, indem sie Aryas
Verbundenheit mit den Ermordeten über deren Tod hinaus symbolisiert.
Somit ist
die Liste, bzw. deren bloße Vorstellung, eine Art Bindeglied zwischen Arya und
den Menschen, die sie liebt, bei denen sie sich einst sicher gefühlt hat. Die
Liste wird für Arya selbst zu einer Art Ersatz für Beziehungen zu anderen Menschen,
wenn ihr diese nicht zur Verfügung stehen – was über weite Strecken der
Handlung von Game of Thrones der Fall ist.
Was im
Falle von Aryas Liste zugegebenermaßen etwas unkonventionell erscheint, ist
eigentlich ein sehr normaler psychologischer Vorgang, der von dem
Kinderpsychotherapeuten Donald Winnicott erstmals beschrieben wurde. Winnicott
sprach von einem Übergangsobjekt, welches eine Stellvertreterfunktion einnimmt,
die dem Kind hilft, sich zu beruhigen, wenn reale Beziehungspersonen nicht
verfügbar sind. Ein erstes, recht typisches Übergangsobjekt stellt in der
Entwicklung vieler Kinder ein Stofftier dar, zu dem das Kind eine innige
Beziehung aufbaut und dass ihm dabei hilft, das Alleine sein oder das
Einschlafen zu bewältigen. In einer idealen psychischen Entwicklung werden die
positiven Gefühle, welche zunächst durch Bezugspersonen vermittelt und
übergangsweise auf helfende Objekte projiziert werden, später internalisiert.
Das bedeutet, Urvertrauen, Geborgenheit, Sicherheit und Ruhe werden nach und
nach zu eigenen Gefühlen, die auch ohne die Präsenz von Personen oder
Übergangsobjekten erlebt werden können, sofern keine manifesten Stress- oder
Belastungsfaktoren vorhanden sind. Die meisten Erwachsenen können es gut
aushalten einige Zeit alleine zu sein, alleine einzuschlafen, oder sich im
Dunkeln aufzuhalten.
Andererseits
verlieren Übergangsobjekte nie vollständig an Bedeutung: Glücksbringer,
Erinnerungsstücke, der Fernseher, das Auto, Musik, Essen, Geld, Medikamente
oder Homöopathika, Suchtmittel, selbst Phantasien und Ideologien können
alltägliche, mehr oder weniger unproblematische Übergangsobjekte im Leben von
gesunden Erwachsenen sein, die uns helfen, Gefühle von Einsamkeit, Angst,
Unsicherheit usw. zu regulieren, wenn wir uns nicht an andere, uns nahe
stehende Personen wenden können oder wollen.
The night
is dark and full of terrors – wohl dem, der eine Liste hat!
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