Der Astrophysiker Dr. Rajesh „Raj“ Koothrappali kann nur mit Frauen sprechen, wenn er betrunken ist, oder denkt, es zu sein. Ausnahmen sind enge Verwandte, wie seine Mutter und seine Schwester.
Eine selektive Sprachhemmung in bestimmten Situationen wird
im ICD-10 als elektiver Mutismus (F94.0) bezeichnet und ist durch folgende
Kriterien definiert:
- Nachweisbare beständige Unfähigkeit, in bestimmten sozialen Situationen, in denen dies erwartet wird, zu sprechen. In anderen Situationen ist das Sprechen möglich
- Dauer des elektiven Mutismus länger als vier Wochen
- Es liegt keine tiefgreifende Entwicklungsstörung vor
- Sprachausdruck und Sprachverständnis liegen im altersentsprechenden Normalbereich.
- Die Störung beruht nicht auf fehlenden Kenntnissen der gesprochenen Sprache, die in den sozialen Situationen erwartet wird
Die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen, nämlich gegenüber Frauen, zu sprechen, als Kernmerkmal der Störung, ist bereits genannt. Die Symptomatik dauert bereits deutlich länger als vier Wochen an, wahrscheinlich schon immer. Eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die ebenfalls die sprachliche Kommunikation stark beeinträchtigen kann, liegt nicht vor. Als solche gilt unter anderem das Asperger-Syndrom (F84.5) unter dem Sheldon Cooper leidet.
Rajs sensorische und motorische Sprachfähigkeit ist
altersgemäß, nämlich vollständig, ausgebildet und obwohl er einen indischen
Akzent hat, spricht er gut genug Englisch, um sich in angstfreien Situationen
adäquat zu verständigen. Die dem Mutismus zugrunde liegende Störung ist in Rajs Fall
eine soziale Phobie (F40.1):
- Deutliche Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
- Deutliche Vermeidung im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Furcht besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
- Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen, z.B. Erröten oder Zittern etc.
- Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten.
- Einsicht dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind
- Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder auf Gedanken an diese
Die gefürchtete Situation ist für Raj eben das Sprechen mit Frauen, insbesondere dann, wenn diese, zumindest theoretisch, als Sexual- und Beziehungspartnerinnen in Frage kommen.
Die Gestaltung sozialer Beziehungen wird grundlegend geprägt
durch die ersten wichtigen Beziehungspersonen. Dies sind in der Regel zunächst
die Eltern. Rajs Eltern sind in Indien erfolgreich und hoch angesehen und
offenbar legen sie großen Wert auf Etikette und Tradition. Mit Rajs Beruf als
Astrophysiker und vor allem mit seinem Gehalt, sind die Eltern unzufrieden,
vermutlich hätten sie sich gewünscht, dass er in die beruflichen Fußstapfen
seines Vaters tritt und Gynäkologe wird. Die Mutter ist überaus bestimmend,
drängt Raj, sich baldmöglichst zu verheiraten, wobei sie klare Vorstellungen
von einer standesgemäßen Ehefrau hat und amerikanische Frauen pauschal ablehnt.
Wir sehen: Raj kann es seinen Eltern kaum recht machen. Da
familieninterne Beziehungsdynamiken häufig sehr stabil sind, liegt es nahe,
dass Raj bereits mit hohen Erwartungen und unverhohlener Enttäuschung seiner
Eltern aufgewachsen ist.
Es scheint als habe er sich vor den überhöhten Anforderungen
immer wieder geflüchtet: Zunächst in die Fantasiewelt von Comics und Science
Fiction, später, im Studium, in die Betrachtung der unendlichen Weiten des
Weltraums und schließlich, als sich die Gelegenheit bot, in die USA.
Doch auch am anderen Ende der Welt (und auch wenn seine
Eltern nicht regelmäßig per Videochat Kritik an ihm üben und ihn mit seiner
finanziellen Abhängigkeit zu beeinflussen versuchen würden) kann Raj dem
Selbstbild, welches seine Eltern ihm über Jahre hinweg vermittelt haben, nicht
entfliehen: Ständig zweifelt er daran, liebenswert zu sein und wird von
der Angst heimgesucht, auf ewig einsam bleiben zu müssen.
Da eine solche Angst nur schwer auszuhalten ist, muss sie
immer wieder aus dem Bewusstsein verdrängt werden, damit Raj überhaupt in der
Lage ist, sich auf die Bewältigung seines alltäglichen Lebens zu fokussieren
und nicht in Verzweiflung zu versinken. Den psychischen Mechanismus, durch den schwierige
emotionale oder kognitive Inhalte ins Unbewusste verdrängt werden, nennt man
Abwehr. Der spezifische Abwehrmechanismus, der in Rajs Fall zum Tragen kommt,
heißt Verschiebung. Die globalen Ängste, Minderwertigkeits- und Schamgefühle
werden auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt verschoben,
um in anderen Situationen freier und sicherer agieren zu können. Allerdings
geht damit eine potenzierte phobische Angst vor der Situation bzw. dem Objekt
einher, auf welches all die Ängste und Befürchtungen verschoben worden sind.
Hierfür findet die Psyche oft Objekte, welche bereits mit
einer gewissen Angst besetzt sind, z.B. Spinnen oder Schlangen, welchen
gegenüber der Mensch, aufgrund ihrer potentiellen Giftigkeit, eine evolutionär
determinierte Prädisposition zur Angst aufweist (welche man Preparedness
nennt).
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Rajs Ängste sich auf Frauen und die Beziehungsaufnahme mit ihnen konzentrieren: Rajs erste und bisher wichtigste weibliche Bezugsperson war seine Mutter, welche ihn im Laufe seines Lebens immer wieder kritisiert, beschämt und gekränkt hat und ihn sich ständig unzureichend fühlen lässt.
Ähnlich verhält sich sein Vater. Dieser ist außerdem
Gynäkologe, also ein wahrer Frauenkenner, gegen den Rajs erste, unbeholfene
Versuche, mit dem weiblichen Geschlecht in Kontakt zu kommen, diesem besonders
unbeholfen und beschämend erschienen sein müssen.
Somit bezieht sich Rajs phobische Angst vor Frauen gar nicht
auf diese selbst, sondern stellt vielmehr einen neurotischen Kompromiss dar,
welcher es ihm ermöglicht, trotz großer Selbstzweifel, Schamgefühle und
Versagensängste ein weitgehend unbeeinträchtigtes und in einigen Bereichen
sogar recht erfolgreiches Leben zu führen.
Folglich überrascht es nicht, dass er seine Phobie schnell
überwindet, nachdem er zum ersten Mal eine fremde Frau (Lucy) wirklich
persönlich kennengelernt hat. Die Konfrontation mit deren Ängsten, welche Rajs
ähnlich sind, lässt sie für Raj als echten Menschen und die Begegnung mit ihr
auf Augenhöhe erscheinen. Und davor muss er keine Angst haben – oder zumindest
nur so viel, wie jeder andere Mann auch.
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